Einkaufsführer für den Straßenbau Deutschland

Praxis der Baumbeurteilung – Kappung*

Die Kappung von Bäumen wird in der ZTV-Baumpflege wie folgt definiert: „Umfangreiches, baumzerstörendes Absetzen der Krone ohne Rücksicht auf Habitus und physiologische Erfordernisse. (Keine fachgerechte Maßnahme).“ Daher gilt der Grundsatz: Das Kappen von Bäumen ist im Regelfall aus biologischen, biomechanischen, ethischen, ästhetischen und ökonomischen Gründen abzulehnen. Jede realisierte Kappung birgt zudem die Gefahr in sich, als Nachahmungsbeispiel für weitere Kappungen zu dienen.

a. Kappung ist keine Baumpflege

Wie in der ZTV-Baumpflege wird auch in seriösen Fachkreisen und der einschlägigen Fachliteratur einhellig der Standpunkt vertreten, dass Kappung im Regelfall nichts mit Baumpflege zu tun haben kann. Bei der Kappung wird nicht auf geeignete Zugäste eingekürzt, sondern internodial geschnitten, also zwischen Verzweigungsknoten (Nodien). Außerdem wird viel zu viel an Kronenvolumen entnommen, nicht selten die komplette Krone und Teile des Stammes. Dabei werden Schnittverletzungen erzeugt, deren Menge und Größe fachlich indiskutabel sind. Die Kappung gesunder Bäume ist mit dem baumpflegerischen Berufsethos nicht vereinbar. In den meisten Fällen trifft dies auch auf kranke und/oder unsichere Bäume, die gekappt wurden, zu.

Dennoch – nach wie vor werden Bäume rücksichtslos zusammengeschnitten – und dies keineswegs nur von Laien. Zur Rechtfertigung werden besondere Umstände angeführt, wird vom Ausführenden erklärt, dass der Auftraggeber die Verantwortung trage (Da stellt sich allerdings die Frage, ob sich der Fachmann seiner fachlichen Verantwortung entziehen darf, ob er nicht Bedenken anmelden muss?). Es wird argumentiert, dass der Rückschnitt die Vorbereitung für die Baumbeseitigung sei, oder dass der Baum ja wieder austreibe (Was macht denn der Rückschnitt einer intakten Krone für einen Sinn, wenn man auf den nachfolgenden Neuaustrieb setzt?). Von manchen „Fachleuten“ wird die Kappung sogar als besonders geeignete Erhaltungsstrategie angepriesen und dabei unkorrekter Weise auf in der Natur vorkommende, nicht durch den Menschen verursachte Baumreduktionen hingewiesen. Jedoch umfassende, internodiale Kronenreduktionen gibt es bei frei entwickelten Bäumen in der Landschaft höchst selten, als Folge schwerer Orkane oder Tornados. In Waldbeständen, wo die Bäume hoch ansetzende Kronen haben, kann es im Zuge von Sturmkalamitäten zum Stammbruch, also totaler Kappung kommen. Allerdings, die meisten dieser aufgrund von Naturgewalten gekappten Bestandesbäume sterben spätestens innerhalb von ein paar Jahren ab. Also – sofern Naturereignisse totale Kappungen herbeiführen, muss gesagt werden, dass diese nicht weniger hässlich und schädigend sind, als durch den Mensch geschaffene.

Diese Aufnahme zeigt eine durch Naturgewalt (Tornado) verursachte Kappung einer Eiche.

 

Auf dieser Aufnahme ist eine Linden-Allee zu sehen, die mittels Schnittmaßnahmen gekappt wurde. In beiden Fällen liegen ein immenser biologischer Schaden und eine dramatische Habitusverfremdung vor.
b. Kappung und biologische Folgen

Ober- und unterirdische Baumorgane entwickeln sich miteinander, stehen in Wechselwirkung zueinander, beeinflussen und unterstützen sich gegenseitig – da ist nichts ohne Sinn oder überzählig.

Der fatalste Aspekt an der Kappung ist, dass die bis zum Zeitpunkt des Rückschnitts für die Assimilatebildung effektivsten Kronenteile (Fein-, Schwach- und Grobäste) komplett entfernt werden, ad hoc. Hierdurch wird das Abwehrvermögen geschwächt oder sogar zerstört, zuerst jedoch gerät der gekappte Baum in lebensbedrohliche Versorgungsnot, wodurch Stressreaktionen in Gang gesetzt werden.

Sofern biologisches Alter, Grundvitalität und Baumart die Möglichkeit bieten, setzt der Baum Phytohormone frei, mit dem Ziel Knospen (Proventiv-/Adventivknospen) zu aktivieren bzw.auszudifferenzieren, die dann ungeordnet, ja geradezu chaotisch als Reïterate austreiben. Mit dieser Vielzahl an Reïteraten versucht der Baum so rasch wie möglich einen neuen Assimilationsapparat aufzubauen, um dem akuten und devitalisierenden Energiemangel zu begegnen. Diesen Neuaustrieb (den Gesamtvorgang nennt man traumatische Reïteration) als Beleg für Schnittverträglichkeit darzustellen, kommt baumpflegerischem Zynismus gleich, zumindest stellt es einen ausgeprägten Mangel an Fachkenntnis dar.

Nach jedem Sägeschnitt (Zahlreiche Gefäße werden geöffnet, Luft dringt ein, es kommt zur Embolie.) setzt eine Besiedlung durch holzabbauende Organismen ein; bei internodial gesetzten Schnitten jedoch (also dort wo kein Verzweigungsknoten und keine Astschutzzone vorhanden ist) entwickelt sich stets eine umfassende, zentrale Fäule, weil das Abschottungsvermögen in den Zonen zwischen Verzweigungsknoten in der Regel schlecht ist und weil es in Ermangelung eines Zugastes zur Unterversorgung mit Assimilaten kommt. Nicht selten sterben größere Bast- und Kambialflächen ab, Rindenablösungen zeigen sich, der gekappte Abschnitt wird gänzlich destrukturiert, zumindest bis zum nächsten Nodium (Verzweigungsknoten). Der Assimilatemangel zieht nicht nur umfassende Ausfaulungen und Morschungen in den Kappungsbereichen nach sich, er wirkt sich auch auf den verholzten Wurzelkörper aus, auch dort kommt es zu Fäuleprozessen. Die Kappung führt immer zu gravierenden biologischen Schäden, auch bei Jungbäumen. Schadenverlauf und Schadenumfang werden dramatisch verstärkt, wenn der Baum bereits Probleme hat, sich in höherem biologischen Alter befindet, ein nicht effektiver Kompartimentierer ist und je größer die Schnittverletzungen sind. In seriösen Baumpfleger- und Sachverständigenkreisen ist es unstreitig, dass durch Kappung die an sich mögliche Lebenszeit drastisch verkürzt wird.

c. Kappung und biomechanische Folgen

Die Kambialaktivität (im Ergebnis: Längen- und Dickenzuwächse, Wachstumsspannungen, Holzeigenschaften, Form des Querschnittes) richtet sich maßgeblich nach den vom Baum lokal über das Kambium wahrgenommenen Lasten. dass dies so ist, wurde durch den herausragenden us-amerikanischen Wissenschaftler TELEWSKI bewiesen und u. a. durch MATTHECK und den Verfasser dieses Beitrags beschrieben. Durch die Kappung von Bäumen oder Baumteilen wird lokal der bis dato vorhandene 101 Lasteintrag gegen Null reduziert, es sind nur noch minimale Kraftflüsse vorhanden. An verschiedenste mechanische Belastungen angepasste Gewebe werden schlagartig entlastet. Entlastung ist in diesem Zusammenhang von negativer Bedeutung. Durch das Ausbleiben der gewohnten Kraftflüsse reduzieren sich die mechanischen Wachstumsimpulse (erste Risse entstehen sofort), die gesamte Aktivität der betroffenen Gewebepartien lässt nach, was biologische Anfälligkeit (Krankheit) begünstigt. Das Ausbleiben der vor der Kappung existierenden Druck-, Biege- und Torsionsbelastungen ist in erheblichem Umfang an der Entstehung von Kambialnekrosen und umfassenden Holzabbau in den und unterhalb der Kappungszonen beteiligt.

Die nach einer Kappung entstehenden obersten Reïterate erweisen sich häufig als bruchanfällig, weil die strukturelle Verbindung zwischen diesen Neutrieben und dem tragenden Holzkörper (Stamm/Stämmling/Ast) unzureichend ist. Ohne ausgeprägte Stamm-/Astkragen bleiben die mechanisch sichernden Wuchsleistungen unzureichend, das Reïterat kann sich nicht umfassend stabilisieren. Wird die Zugbelastung (erzeugt durch zunehmendes Eigengewicht und zunehmende Windlast) nach außen, also weg von der Schnittfläche zu groß, kommt es leicht zum Ausbrechen. Bruch begünstigend wirkt sich zudem aus, dass das Fundament der Reïterate massiv angegriffen wird, durch Holzabbau. Dies ist einer der Fälle, in denen sich gute Vitalität negativ auf die Verkehrssicherheit auswirken kann. Beeinträchtigungen der Verkehrssicherheit durch die verursachten Schäden am Wurzelkörper werden eventuell später relevant.

d. Kappung und gestalterische Folgen

Die Kappung von Bäumen führt immer unmittelbar und bleibend zu großen gestalterischen Einbußen, gleichgültig ob es sich um einen Jung- oder Altbaum handelt. Da es bezüglich der Baumgestalt eine durchaus allgemein empfundene Ästhetik gibt, ist es unzulässig in diesem Zusammenhang von Geschmacksfrage zu sprechen.

Gekappte Bäume müssen stresshaft neue Triebe ausbilden, um zumindest teilweise biologisch zu kompensieren. Dabei folgen sie nicht mehr ihrem ursprünglichen Verzweigungsschema; stattdessen entsteht ein Reïterationswust, aber niemals wieder ein arttypischer Habitus. Reïterationskronen verschiedener Baumarten ähneln sich aus der Distanz sehr, da die für die jeweilige Baumart typische Architektur und das typische Verzweigungsmuster fehlen. Dies hängt damit zusammen, dass die Reïterate zeitgleich entstehen und miteinander konkurrieren müssen, ähnlich wie Bäume eines Forstbestandes. Untere Verzweigungen entstehen nur bei Reïteraten in weitem Stand, die anderen streben im Konkurrenzkampf um Licht nach oben und altern übrigens vergleichsweise schnell.

e. Kappung und ökonomische Folgen
Durch das Kappen werden vermeidbare Kosten und vorzeitige Ersatzinvestitionen verursacht, da gekappte Bäume häufiger kontrolliert und geschnitten werden müssen. Eventuell wird der Einbau von Kronensicherungen erforderlich, nicht selten wird die Kappung aus Sicherheitsgründen mehrfach wiederholt. Gekappte Bäume müssen vorzeitig entfernt und ersetzt werden.
Auswege
  • Bäume sind bereichernde Elemente an unseren Straßen. Unbestreitbar überwiegen ihre vielfältigen, positiven Funktionen. Straßenbäume haben nicht nur ideelle Werte, sondern auch einen monetären Wert. Straßenbäume sind keine Gefahrenherde. Straßenbäume benötigen unseren Schutz und Pflege im wörtlichen Sinn.
  • Offenheit der Straßenmeister gegenüber den Baumfachleuten im eigenen Hause und den ausführenden Firmen.
  • Wer, und sei es auch nur im Groben, weiß, was Bäume mindestens benötigen und was ihnen andererseits schadet, der wird viele Fehler nicht machen.
  • Fort- und Weiterbildungen zum Thema Baum (etwa: Fachgerechte Pflanzung, Anwachspflege, Aufbau- und Erziehungsschnitt, Fachgerechte Schnittmaßnahmen, je nach Alter und Baumart, Wundbehandlung, Effektiver Baumschutz vor und während Baumaßnahmen und Fachgerechte Baumkontrolle) sind als ebenso wichtig anzusehen, wie Fortbildungen zu anderen Themen.
  • Artenschutzrechtliche Bestimmungen beachten (BNatSchG), damit Habitatstrukturen nach Möglichkeit erhalten bleiben. Zusammenarbeit mit Naturschutzbehörden.
Sonderfälle

In Einzelfällen, die ausschließlich fachlich begründet sein müssen, kann die Kappung eines Baumes oder der Sicherungsschnitt an einem Baum angebracht sein:

  • Ein Baum hat einen schweren Sturmschaden erlitten.
  • Es liegt eine schwere Trieberkrankung vor.
  • Ein Baum weist schwerste bruchmechanisch relevante Schäden auf, denen mit leichteren Entlastungsschnitten und/oder Einbau von Sicherungen nicht hinreichend zu begegnen ist.
  • Ein Baum soll trotz schwerster Schäden nicht gefällt werden, weil er wichtige Habitatstrukturen (beispielsweise Höhlungen oder Mulm) aufweist.
  • Eine schon einmal vorgenommene Kappung muss wiederholt werden, weil die seinerzeitige Kappungszone zu stark ausgefault ist und die nachgewachsene Krone nicht mehr tragen kann.

Baumhöhlen sind wichtige und geschützte (§ 44 BNatschG) Lebensraumstrukturen. Sie werden von zahlreichen, teils streng geschützten Tierarten genutzt. Hier handelt es sich um geschlüpfte Eulen in einer alten Pappel (Straßenbaum an der Ostsee). Nicht selten werden Baumhöhlen ganzjährig genutzt, wobei sich die Tierarten abwechseln können.
Das Foto zeigt den Stammfuß einer Esche (Straßenbaum an einer Bundesstraße im Landkreis Nordwestmecklenburg. Deutlich zu erkennen ist die Ansammlung von Fledermauskot. Bei dem Stamm handelt es sich um eine natürliche und zur Zeit noch ausreichend stabile Röhrenkonstruktion. Eine solche Lebensstätte gilt es zu erhalten. Gerät diese Röhre in das Stadium der Instabilität, sodass zwingender Handlungsbedarf besteht, ist der Fällung ein Kronensicherungsschnitt oder eine Kappung vorzuziehen.
* Texte von Marko Wäldchen, öffentlich bestellter und vereidigter Sachverständiger, FLL-Regelwerksausschussmitglied Baumkontrollen/Baumuntersuchungen, Mitbegründer des BAUMZENTRUM’s, langjährige Zusammenarbeit mit Helge Breloer
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